Algen trugen wesentlich zur Entwicklung des Menschen bei
Laut eines internationalen Forschungsteams wurden Meeres- und Süßwasseralgen in weiten Teilen Europas – von Südspanien bis zu den nordschottischen Orkney-Inseln – über viele Jahrtausende verzehrt bis sie durch die Landwirtschaft verdrängt wurden. Der Verzehr von Meeresgemüse und Fisch war ein maßgeblicher Faktor bei der evolutionären Entwicklung des Gehirns. Daher hat die Besiedlung an den Küsten einen großen Einfluss auf die kulturelle Weiterentwicklung des Menschen.
Inhaltsverzeichnis
- Geschichte der Algen als Nahrungsmittel in Europa
- Der Nutzen von Meeresalgen in der Ernährung
- Brain Food
- Algen als Jod-Quelle für die Entwicklung
- Algen als Quelle für Mineralstoffe und Spurenelemente
- Algen als Quelle für Omega-3-Fettsäuren
- Algen als Protein-Quelle für die Entwicklung
- Algen stärken die Darm-Hirn-Achse
- Was der Duft des Meeres mit dem Gehirn zu tun hat
Geschichte der Algen als Nahrungsmittel in Europa
Weltweit gibt es etwa 13.000 Meeresalgen (Braun-, Rot und Grünalgen), aber nur etwa 145 werden als Lebensmittel genutzt, maximal 50 davon industriell – hauptsächlich für die Herstellung von Verdickungsmitteln (Alginat, Carrageen, Agar-Agar).
Algen sind ein wesentlicher Bestandteil in der asiatischen Küche. Beispielsweise nehmen Japaner durch den Verzehr von Algen im Schnitt 13,8 mg Jod pro Tag auf – das ist das 92-fache der in Europa und den USA empfohlenen Tagesdosis (RDA). Traditionell sind Algen auch in Frankreich, Irland und Schottland ein Element in der Ernährung. Aktuell erleben Algen in Deutschland und Skandinavien ein Comeback als nachhaltiges und veganes “Super-Food” (→ Artikel “Gesund, nachhaltig, regional: Algenküche im Fokus”).
Eine aktuelle Studie von 2023 1 deutet anhand chemischer Spuren im Zahnstein der alten Europäer darauf hin, dass Seetang vor rund 8.000 Jahren auf dem Speiseplan stand. Der Wechsel auf landwirtschaftliche Kulturpflanzen zu Beginn der Jungsteinzeit (Neolithikum) hat dazu geführt, dass Meeresressourcen zunehmend als Randerscheinung oder als Nahrung bei Hungersnöten betrachtet wurden. Aber in Teilen Europas wurde das Meergemüse noch bis ins Mittelalter gegessen. So regelten bis ins 10. Jahrhundert Gesetze das Sammeln von Seetang in Island, Irland und Britannien. Heutzutage sind Algen nur noch in kleinen Regionen wie Irland oder der Bretagne (Frankreich) als regelmäßige Nahrungsquelle zu finden.
“Heute sind Algen und Süßwasserpflanzen praktisch nicht mehr Teil der traditionellen westlichen Ernährung. Ihre Verdrängung zur Hunger- und Tiernahrung trat wahrscheinlich über einen langen Zeitraum auf.”
Prof. Karen Hardy, Universität Glasgow
Der Nutzen von Meeresalgen in der Ernährung
Meeresgemüse bietet aus ernährungsphysiologischer Sicht hervorragende Nährstoffe für eine optimale Entwicklung von einem primitiven Vorfahren zum modernen Homo sapiens. Algen konnten an den Küsten in Hülle und Fülle gefunden und geerntet werden, daher war die frühe Besiedelung an den Küsten immer am größten, sagt Professor Ole G. Mouritsen von der Universität von Süddänemark.
Algen sind eine gute Quelle für Vitamine (A, B1, B2, B9, B12, C, D, E und K), essenzielle Mineralien (Calcium, Eisen, Jod, Magnesium, Phosphor, Kalium, Zink, Kupfer, Mangan und Selen), Ballaststoffe, Eiweiß, essenzielle Aminosäuren, Taurin, mehrfach ungesättigte Fettsäuren (EPA, DHA) und Polyphenole mit antioxidativen und entzündungshemmenden Eigenschaften. Die enthaltenen natürlichen Geschmacksverstärker (→ Artikel “Umami – der fünfte Geschmack”) regen den Appetit an und machen jede Speise intensiver, weshalb sie noch heute eine beliebte Grundlage für Suppen darstellt.
Brain Food
Der wissenschaftliche Artikel “Der Verzehr von Meeresalgen und das menschliche Gehirn” aus dem Jahr 2017 2 beschreibt die positiven Auswirkungen des Verzehrs von Meeresalgen auf die menschliche Gehirngesundheit und untersucht deren potenzielle Rolle in der Entwicklung des frühen Homo sapiens.
Als komplexes Organ benötigt das Gehirn bestimmte Nährstoffe. Die Forscher heben hervor, dass Meeresalgen mit ihren essentiellen Nährstoffen wie mehrfach ungesättigte Fettsäuren (z.B. DHA und EPA), Taurin, Magnesium, Zink, Vitamin B12 und Jod diesen Bedarf decken können. Diese Nährstoffe sind wichtig für die Gehirnentwicklung und -funktion, inklusive der Prävention kognitiver Erkrankungen wie Demenz und Alzheimer. Unsere Vorfahren konnten somit durch den Verzehr von Algen einen evolutionären Vorteil erlangen, der zur Entwicklung eines größeren und komplexeren Gehirns beigetragen hat.
Zusätzlich betont der Artikel die antioxidativen Eigenschaften von Meeresalgen, die Entzündungen und oxidativen Stress reduzieren können. Die Rolle des Mikrobioms im Darm und dessen bidirektionale Kommunikation mit dem Gehirn werden ebenfalls diskutiert, wobei Meeresalgen als präbiotische Nahrungsmittel eine Diversität der Darmflora fördern könnten, was sich positiv auf die Gehirngesundheit auswirkt.
In der modernen Lebensweise können die in Algen enthaltenen Elemente bei der Abwehr menschlicher kognitiver Störungen wie Demenz, Alzheimer, Depression, bipolaren Erkrankungen und anderen durch fortschreitende Neurodegeneration gekennzeichneten Krankheiten vorbeugen. Erfahre mehr darüber in unserem → Artikel „Wie Algen unser Gehirn schützen können“.
„Algen sind für den Menschen heute genauso gesund und nahrhaft wie vor Millionen von Jahren.“
Prof. Ole G. Mouritsen, Universität von Süddänemark.
Algen als Jod-Quelle für die Entwicklung
Jod ist ein unabdingbares Element für die Entwicklung des tierischen Organismus. Das sog. Kaulquappenexperiment zeigt, dass sich Individuen, welche in jodidfreiem Wasser aufwachsen, nicht zum Frosch weiterentwickeln. Wird dem Wasser eine minimale Menge an Jodid beigegeben, verläuft die Entwicklung normal.
Heutzutage kennt man viele physiologische Wirkungen von Jod im Detail:
- antioxidativ (gegen oxidativen Stress)
- antiseptisch (gegen Bakterien, Pilze, Parasiten)
- zellteilungsregulierend
- tumorabwehrend durch Einleitung der Apoptose
- alkalisierend (gegen Übersäuerung)
Durch diese entwicklungsbiologisch wichtigen Eigenschaften können sich die Gewebe differenzieren und die Organe optimal ausbilden. Bei Jodmangel sind die Funktionen einzelner Organe und damit auch die Entwicklung zum ausgereiften Organismus eingeschränkt.
Während der Schwangerschaft, der Stillzeit und für Kleinkinder ist ein ausreichender Jodspiegel für eine normale Entwicklung des Gehirns notwendig. Bei Mangel können neurologische Störungen auftreten. Wissenschaftler sind besorgt, weil selbst ein leichter Jodmangel der Mutter zu einer Beeinträchtigung des Intelligenzquotienten (IQ) beim Kind führen kann. Bis zu 50 % aller Neugeborenen haben einem leichten Jodmangel. Folglich besteht das Risiko, dass diese Kinder ihr kognitives Entwicklungspotenzial nicht voll ausschöpfen können und beispielsweise Lernprobleme in der Schule durchmachen (→ Artikel “Jod – für mehr als nur die Schilddrüse”).
Algen als Quelle für Mineralstoffe und Spurenelemente
Algen spiegeln in der Regel den Mineralgehalt des Meerwassers, in dem sie wachsen, wieder. Daher enthalten sie auch solche Mineralstoffe und Spurenelemente, welche in Landpflanzen nur in sehr geringen Mengen vorkommen. Zink, Selen und Magnesium, aber auch Strontium, Mangan und Molybdän kommen in Algen vor.
Magnesium ist wichtig für die Fähigkeit, neue Informationen im neuronalen Netzwerk zu speichern. Ratten, welche über 24 Tage mit ergänzenden Magnesiumverbindungen gefüttert wurden, zeigten verbesserte Lernfähigkeiten und Gedächtnisfunktionen.
Zink spielt eine wichtige Rolle beim Lernen, bei der Entwicklung und beim Gedächtnis. Zinkmangel im Gehirn kann zu zahlreichen negativen Auswirkungen führen, einschließlich Konzentrationsschwäche, Lernschwierigkeiten und Gedächtnisverlust, vermindertes Hirnvolumen und kognitiven Anomalien bei der Entwicklung von Neugeborenen. Was Spurenelemente für die Haut bewirken, erfährst du im → Artikel “Spurenelemente für eine schöne Haut”.
Algen als Quelle für Omega-3-Fettsäuren
Algen sind die primären Produzenten mehrfach ungesättigter Fettsäuren (PUFA). Fische, die für ihre “guten Fette” bekannt sind, erhalten diese durch Aufnahme von Algen mit der Nahrung. Sie reichern sich im Fettgewebe der Fische an und sind daher eine gute Nahrungsquelle (→ Artikel “Ich esse Algen. Also bin ich.”).
Die Versorgung mit den wichtigen Omega-3-Fettsäuren Eicosapentaensäure (EPA) und Docosahexaensäure (DHA) sind unerlässlich für die Ausbildung eines gut funktionierenden Gehirns und für die Ausprägung der kognitiven Fähigkeiten. Daher werden sie heute industriellen Nahrungsmitteln wie Margarine zugesetzt. Durch ihre ungesättigten Doppelbindungen sind sie extrem sauerstoffempfindlich. Aus diesem Grund ist der Einsatz in Kosmetika nur bedingt sinnvoll (→ Artikel “Warum verwendet Oceanwell kein Algenöl in den Produkten?”).
Algen als Protein-Quelle für die Entwicklung
Genau wie Mikroalgen haben auch Makroalgen einen hohen Proteingehalt von bis zu 50 Prozent – ähnlich wie Soja. Dazu kommen reichlich wertvolle Ballast- und Mineralstoffe, weiterhin kleine Mengen des für den Energiestoffwechsel wichtigen Vitamins B12, das sonst nur in tierischen Produkten zu finden ist. Da eine eiweißreiche Nahrung wichtig für den Aufbau der Muskeln ist, steigern proteinreiche Algen die Leistungsfähigkeit und somit auch den evolutionären Vorteil.
Taurin ist eine schwefelhaltige, semi-essentielle Aminosäure, die natürlicherweise im Körper vorkommt. Sie fungiert als Neurotransmitter und intrazellulärer Botenstoff. Zu den pharmakologischen Wirkungen von Taurin gehören die Stabilisierung von Membranen, zellschützende und entzündungshemmende Wirkungen sowie die Regulierung von intrazellulärem Calcium und Neurotransmittern. Die höchsten Konzentrationen treten im sich entwickelnden Gehirn auf. Taurin erhöht dabei den Prozentsatz der neu gebildeten Neuronen deutlich.
In der aktuellen Forschung werden positive Effekte von Taurin bei verschiedenen neurologischen Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson, zerebraler Ischämie, Gedächtnisstörungen, Depressionen, Angstzuständen, Rückenmarksverletzungen, traumatischen Hirnverletzungen und Epilepsie untersucht. Damit steht fest, dass diese hauptsächlich aus Rotalgen (z. B. Dulse, Nori) stammende Aminosäure, ebenfalls zur Hirnentwicklung beigetragen hat.
Algen stärken die Darm-Hirn-Achse
Der menschliche Darm enthält zwischen 50 und 100 Millionen Nervenzellen und mehrere Billionen Mikroben mit einer großen Artenvielfalt. Dieses komplizierte System wird aufgrund seiner Größe, Komplexität und der Ähnlichkeit der Neurotransmitter und Signalmoleküle mit dem menschlichen Gehirn oft als „zweites Gehirn“ bezeichnet (→ Artikel “Die Haut ist ein Spiegelbild des Darms.”).
Algen fördern die Diversität der Darmflora, während ihr die Algenzucker wie Ballaststoffe als präbiotische Nahrung dienen. Jüngste Forschungen zeigen, dass die Kommunikation zwischen den Mikroorganismen im Magen-Darm-Trakt und dem Gehirn entlang der Darm-Hirn-Achse massiv zur Gehirngesundheit beiträgt (→ Artikel “Das Mikrobiom der Haut”).
Was der Duft des Meeres mit dem Gehirn zu tun hat
Algen enthalten die schwefelhaltige Substanz Dimethylsulfoniumpropionat – kurz DMSP. Es hat antioxidative und neuroprotektive Eigenschaften, weshalb es aktuell als Mittel gegen Alzheimer und Parkinson untersucht wird. Das in Fucus-Algen enthaltene Fucosterin wird durch Umwandlung im Körper zu Saringosterin, welches ebenfalls in der Alzheimer-Forschung untersucht wird.3
DMSP wirkt dem Abbau von Gehirnzellen entgegen, fördert die Entgiftung des Gehirns und die Regeneration von Neuronen – ähnlich wie ein Neurotropin. Es wird auch von Landpflanzen produziert und wirkt dort als Anti-Stress-Substanz, z. B. gegen Salzstress im Salz-Schlickgras (Spartina anglica).
Beim bakteriellen Zerfall von Algenmaterial entsteht das flüchtige Abbauprodukt Dimethylsulfid (DMS), welches auch als typischer “Meeresduft” bezeichnet wird. Es ist auch verantwortlich für den typischen Geschmack und Geruch einiger Meeresfrüchte. Es trägt als Kondensationskeim zur Wolkenbildung bei und beeinflusst damit – wie Jodid – das Küstenklima (→ Artikel “Jodverbindungen aus Meeresalgen beeinflussen das Küstenklima”).
Fazit
Meeresalgen sind eine hervorragende Nahrungsquelle mit bioaktiven Bestandteilen, die eine gesunde Ernährung fördern und den Vorteil haben, dass sie krebshemmende, antivirale, antimykotische, antidiabetische, blutdrucksenkende, immunmodulierende, gerinnungshemmende, entzündungshemmende, antioxidative, UV-schützende und neuroprotektive Eigenschaften aufweisen. Die Verwendung bioaktiver Stoffe aus Meeresalgen in biotechnologischen und industriellen Anwendungen wird letztendlich einen gesünderen Lebensstil auf nachhaltige Weise fördern.
Quellen:
[1] Stephen Buckley, Karen Hardy et al., „Human consumption of seaweed and freshwater aquatic plants in ancient Europe“, Nature Communications volume 14, Article number: 6192 (2023).
[2] M. Lynn Cornish, Alan T. Critchley, Ole G. Mouritsen, “Consumption of seaweeds and the human brain.”, Journal of Applied Phycology, Volume 29, pages 2377–2398 (2017).
[3] Fanfan Sun et al., „Exploring Dimethylsulfoniopropionate as a potential treatment for Alzheimer’s disease: A study using the 3 × Tg-AD mouse model“, Phytomedicine. 2024 Jul 25:130:155788.
Artikel “Die Steinzeit-Europäer aßen Algen”
Interviev mit Dr. Bettina Hees, “Gesunde Schilddrüse durch natürliches Jod aus Algen”
Interview mit Dr. Heidi Wichmann, “Was Algen, ein gesundes Gehirn und Wale miteinander zu tun haben”
Bildnachweis:
Titelbild von Marlene Leppanen auf Pexels.com
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